Charcuterie
neu gedacht
Thunfisch-N’duja, Karpfenweißwurst und Karotten-Debreziner sind nur einige der Ideen, mit denen die traditionsreiche Gattung Charcuterie derzeit aufgewirbelt wird. Ein kleiner Streifzug durch ein Genre im Wandel.
(Delikatessen) Charcuterie in einem Atemzug mit Knollensellerie, Algen und Schwertfisch zu nennen? Das ist neu. Viele Jahrhunderte lang galten Gleichungen wie diese: Ohne Fleischergewerbe keine Wurst, ohne Landwirtschaft kein Schinken. Das Handwerk der Charcuterie war immer eng mit Tieren wie Schweinen, Rindern oder auch Gänsen verbunden, ob es sich nun um Spezialitäten aus Frankreich, Deutschland, Polen oder anderen Ländern handelte.
Heute hat luftgetrockneter Schinken Lookalikes aus Roten Rüben, was wie weißer Speck aussieht, ist in Wirklichkeit Kohlrabi, während Topinambur und schwarzer Rettich in Form von würzigen Hartwürsten auf den jüngst gehypten Charcuterie-Boards auftauchen. Querdenkende Sterneköch:innen tüfteln an Debrezinern aus Karotten, die mithilfe von Pilzsporen zu wurstartiger Konsistenz reifen und dank des Einsatzes der ungarischen Originalgewürze dem Gaumen Mimikry-Spiele ermöglichen. Vor allem in der veganen und der „Leaf to Root“-Küche haben Würste und andere Charcuteriewaren aus Gemüse unlängst eine steile Karriere hingelegt. Eine Vorreiterin in diesem Genre ist die Schweizerin Esther Kern, die heute vegane Steaks aus Roten Rüben, in der Schweiz Randen genannt, anbietet; begonnen hat sie mit einer Version des berühmten Bündner Fleisches aus Roten Rüben.
Pflichtlektüre für alle, die an Charcuterie aus Wurzeln und Knollen experimentieren, ist „Koji Alchemy: Rediscovering the Magic of Mold-Based Fermentation“ von Jeremy Umansky und Rich Shih. Das Buch ist sozusagen die Bibel, wenn es um das Arbeiten mit Kojisporen geht. Diese sind – neben Faktoren wie der richtigen Temperatur und Reifezeit – essenziell, damit Gemüse jenen Biss und die umamistarken Aromen bekommt, wie man es von Wurst und Schinken tierischen Ursprungs gewohnt ist.
Aber nicht nur Gemüse dient als Grundlage für eine neue Generation der Charcuterie: Auch aus Fisch entstehen heute ungeahnte Produkte – von Karpfenweißwurst bis Thunfisch-N’duja. Den unbestreitbar größten Einfluss in diesem Zusammenhang hat der Australier Josh Niland. Der Koch hat mit seinem Denken, das Fleischhauerhandwerk auf die Gattung Fisch zu übertragen, tatsächlich eine ganze Branche verändert. Seine Produkte tragen Namen wie Kingfish-Pastrami und Halibut-Chorizo, seine Fish Butchery ist eine Fischhandlung, wie man sie bisher noch nicht kannte. Sie wurde seitens der Presse schon einmal als „Hybrid zwischen Apple-Store und Damien-Hirst-Installation“ bezeichnet. Fisch nicht nass auf Eis zu lagern, sondern ihn wie Fleisch trocken reifen zu lassen, ist nur eines von Josh Nilands Credos. Er hat außerdem neue Denkweisen für das Zerlegen von Fischen geprägt.
Eine Art Bruder im Geiste, wenn man so will, jedoch aus etwas anderen Beweggründen, ist der Spanier Ángel León, Chef des Drei-Sterne-Restaurants Aponiente in Cádiz. Er will aus dem Meer alles an Zutaten herausholen, was bisher verschmäht wurde. Reiskörner auf Seegras gehören ebenso dazu wie Fischarten, die man lange nicht beachtete, weil sie mühsam zu verarbeiten waren oder als unedel galten. Zunächst kamen solche Fische bei den Gästen aber nur mäßig gut an. Leóns Lösung: Er servierte das unbeliebte Meeresgetier fortan in veredelter Form. Als Guanciale, Mortadella, Chorizo oder Blutwurst – sozusagen als „Marine Charcuterie“.